Liv. Roman.
Kevin Kuhn, Berlin Verlag, 2017
Möglicherweise genial
Im Jahr 2012 habe ich eine Menge Bücher gelesen, aber Kevin Kuhns Erstling "Hikikomori" gehörte zu denjenigen, die nachhaltigere Eindrücke hinterließen. Diese im Wortsinn merkwürdige Geschichte um die Selbstisolation des verhinderten Abiturienten Till Tegetmeyer war faszinierend komponiert, spektakulär erzählt und auf spannende Weise unkonventionell.
Entsprechend hoch sind die Erwartungen, als jetzt - endlich, 5 Jahre danach - der zweite Roman vorliegt: "Liv". Ein dickes, solides, geradkantiges, schwarz eingebundenes Buch mit fast 500 Seiten, der Autorenname beinahe schüchtern rechts oben auf dem Cover, auf dem sich ansonsten der Romantitel in fetten Versalien zweimal raumgreifend wiederholt. Es fühlt sich gut an, diesen hochwertig anmutenden Ziegel in den Händen zu halten.Liv ist auf der Flucht, wenn man so will. Die junge Israelin entzieht sich der Einberufung zum Militär, indem sie auf Weltreise geht - die Geschichte beginnt folgerichtig am Flughafen. In Israel gibt es nur wenige Möglichkeiten, dem Wehrdienst zu entkommen, aber sicher ist in dieser Hinsicht eigentlich nur das eigene Versterben. Wer ins Ausland flieht, kann nicht wieder in die Heimat zurückkehren; der Schritt ist endgültig.
Aber Liv ist trotzdem nicht einsam oder gar isoliert. Sie steht in ständiger Verbindung mit ihren Lieben, mit ihren Bekannten, mit Elam, dem seelenverwandten Freund. Unaufhörlich ist sie dabei, Eindrücke zu posten, zu teilen, zu kommentieren, zu liken, zu filmen und zu fotografieren, ständig versendet sie Nachrichten, Anmerkungen, Kartenausschnitte, Links und vieles andere mehr. Ihr Smartphone ist Assistent, zentrales Kommunikationsmittel, Archiv, unmittelbarer Kontakt - und letztlich unersetzlich, kommt einem Körperteil nahe, fast gleich. Livs Leben und ihre Erlebnisse wären aus ihrer Sicht bedeutungsärmer, bestünde die Möglichkeit nicht, sie umgehend mit anderen zu teilen - und die Reaktionen der anderen zu erleben. Sie ist keineswegs fremdgesteuert, eher im Gegenteil, denn sie ist klug, selbstbewusst und im postmodernen Sinn des Wortes authentisch, aber ihre Wahrnehmung ist - zeitgemäß - stark auf den mitteilenden Aspekt fokussiert. Der wiederum ist für Liv immanent; sie sieht die Welt um sich aus dieser Perspektive, ist quasi die Botschafterin einer Community, die ihr unmittelbar folgt. Eine Community, die täglich wächst. Liv ist ihr Auge, ihr Ohr, ihre Stimme. Dieses Konstrukt ist gleichzeitig ihre Welt, ihr Planet. Und sie nennt das auch so.Gleichzeitig ist Liv in gewisser Weise äußerst naiv, denn dieses Eingebettetsein in die unaufhörlichen Datenströme verleiht ihr eine Sicherheit, die überhaupt nicht existiert, wie sie erfahren muss. Das Netz, das sie um sich herum und damit sozusagen auch unter sich wähnt, ist und bleibt ein virtuelles, zudem ein wenig verlässliches, kurzlebiges, extrem trendorientiertes. Es schützt sie auch nicht, etwa vor den Tätscheleien des mexikanischen Taxifahrers. Nach einer längeren, vergleichsweise unbeschwerten und höhepunktarmen, sehr hippiemäßigen Zeit auf der Halbinsel Yucatán reist Liv weiter in Richtung Norden, beinahe direkt in die Arme der Menschenhändler, Drogenkuriere und Organräuber. Es sind weder die elektronische Assistentin Ava, noch die Netzgemeinde, die Liv dort schützen, sondern eine wohlmeinende Rezeptionistin aus Fleisch und Blut. Und auch später, in der Wüste von Arizona, wird es nicht das Smartphone sein, das sie aus einer mehr als brenzligen Situation befreit. Schlimmer noch: Die Netzpräsenz kann sich letztlich sogar gegen das Individuum wenden, zum Auslöser von Hass, Verachtung und Ächtung werden. Auch das wird Liv erleben, ohne aus ihrer Sicht einen konkreten Anlass geboten zu haben. Eben noch prominent, fast ein Star, besteht für sie - wie für jeden anderen auch - jederzeit die unschöne Chance, zum Ausgestoßenen zu werden, sich inmitten eines Shitstorms zu befinden, der bis weit in die Privatsphäre hinein heftig bläst, die eigene Welt in Trümmer legt.
Parallel erzählt Kuhn von einem gewissen Franz Frey, der in den ausgehenden Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts in Berlin lebt, in einer Zeit des Aufbruchs, der aufkommenden Emanzipation, des Hedonismus' und der stetig wachsenden individuellen Freiheit. Es wird gefeiert, getanzt und geraucht, nicht nur die "Flappergirls" brechen reihenweise Tabus - und am Horizont schweben die Zeppeline. Einer davon transportiert einen besonderen Fluggast, die junge, hübsche und weltweit prominente Kiki. Franz wird zufällig stolzer Besitzer einer Kamera, einer nagelneuen Leica, und es gelingt ihm, in einem besonderen Moment ein besonderes Foto von dieser Kiki zu machen. Über Nacht entwickelt sich Franz zu einem der Stars in der sensationsgierigen, schnelllebigen Stadt, die gemeinsam mit dem Rest der Welt auf einen gigantischen Abgrund zusteuert. Aber - etwas ist seltsam an diesem Erzählstrang, der sich mit der Jetztzeit-Geschichte von Liv abwechselt. Manchmal scheint die Sprache nicht zu passen, dann wieder tauchen in diesem Berlin technische Gerätschaften auf, die es nie gab. Dieser Franz scheint eine Vorahnung davon zu haben, wie sich die Welt in einigen Jahrzehnten darstellen wird.
Kevin Kuhns zweiter Roman ist eindringlicher, strukturierter und kompakter als "Hikikomori", fast könnte man sagen: Literarischer. Hier ist jemand in seinen Stil gewachsen, baut auch thematisch sein Fundament aus, obwohl es dasselbe ist, denn es geht in "Liv" wieder um Identität. Und um die Relativität der Identität. Um die Positionierung in der Gesellschaft, um die Frage, was das überhaupt ist, eine Gesellschaft, und wie sie sich individuell definiert. Liv denkt an einer Stelle darüber nach, wie verschieden sich das gleiche soziale Erleben für unterschiedliche Menschen darstellt, die über unterschiedliche Kommunikationsmittel, soziale Hintergründe usw. verfügen. Sie beantwortet diese Frage, wie oben bereits angedeutet, mit ihrem persönlichen Planetenmodell, aber ihr ist bewusst, dass diese Antwort eigentlich eine Lüge ist, denn die Virtualität, die auch den Roman selbst nach und nach durchdringt, schert sich um das irdische Wahr oder Falsch nicht mehr. Dessen Existenz ohnehin fraglich ist.
"Liv" bietet über weite Strecken ein großes Lesevergnügen - und ein, wenn man so will, wichtiges Lesevergnügen, denn die Fragen, um die es geht, werden mit weiter fortschreitender Digitalisierung und der damit einhergehenden Durchdringung unserer sozialen Lebenswelten in den Mittelpunkt jedweden Miteinanders rücken. Um das zu verdeutlichen, fährt Kevin Kuhn in der zweiten Hälfte des Romans ein paar Figuren auf, die in dieser Hinsicht bereits einige Schritte mehr hinter sich haben, womit die doch sehr konventionelle Form - Literatur allgemein, Roman konkret - jedoch an ihre Grenzen gerät. Es fühlt sich tatsächlich so an, als wären diese Figuren nur ungerne Bestandteil der Geschichte, diesem statischen Abbild aus unveränderlichen Buchstaben auf weißem Papier, bar jeder Interaktion. Liv selbst verliert gleichzeitig mehr und mehr an Bodenhaftung, die Dialoge werden eigenartiger, die Abläufe skurriler. Was nicht heißt, dass es am Ende keinen Sinn ergibt. Es wird nur etwas mühevoller, Kevin Kuhn auf dem Weg dorthin zu folgen. Das möglicherweise Geniale an diesem Roman ist, dass es trotzdem funktioniert.
In der Bewertung riskiert man, Phrasen zu dreschen, denn "Liv" beschäftigt sich tatsächlich mit den Themen, die brisant, relevant und wahrscheinlich entscheidend für unsere Zukunft sind, einer Zukunft, in der das Individuum Gefahr läuft, zum reinen und austauschbaren Datenlieferanten zu werden, zwar wertvoll, aber auch ersetzbar, selbst innerhalb engerer Sozialstrukturen. Ich musste beim Lesen oft an Ben Lerners "Abschied von Atocha" denken, dem diametralen Gegenentwurf bezogen auf die Lebenswelt der Hauptfigur, der aber dennoch mit starken thematischen Überschneidungen daherkommt. "Liv" ist direkter, gefährlicher, echter, aber Lerner hat mich einen kleinen Tick besser unterhalten.
Tom Liehrs aktuelle Veröffentlichung:
LANDEIER.
ROMAN.
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ISBN: 978-3499290428
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